Postcapital. Archive 1989 – 2001

Württembergischer Kunstverein Stuttgart

Postcapital. Archive 1989 – 2001
Ein Kunstprojekt von Daniel García Andújar / Technologies To The People
22. November 2008 – 18. Januar 2009

Presserundgang: 21. November 2008, 14 Uhr
Einführung

Vom 22. November 2008 bis 18. Januar 2009 zeigt der Württembergische Kunstverein die Ausstellung „Postcapital. Archive 1989 – 2001“ des spanischen Künstlers Daniel García Andújar. Das Projekt, das sich gleichermaßen als multimediale Installation, Bühnenraum, offene Datenbank und Werkstatt versteht, basiert auf einem digitalen Archiv mit über 250.000 Dateien (Texte, Audiodokumente, Videos etc.), die der Künstler in den letzten zehn Jahren aus dem Internet zusammengetragen hat. Mit diesem Projekt wird Andújar 2009 auch an der Biennale von Venedig teilnehmen.

„Postcapital“ kreist um die tiefgreifenden Veränderungen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit auf gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und kultureller Ebene ereignet haben, und als deren Wendepunkte der Fall der Berliner Mauer (1989) sowie die Attacken des 11. Septembers 2001 figurieren. Dabei betrachtet Andújar die Entwicklungen nach dem „Mauerfall“ nicht unter Aspekten des Postkommunismus sondern des Postkapitalismus. Es geht um die Frage, inwiefern sich die kapitalistischen Gesellschaften ohne ihr ehemaliges Gegenstück verändert haben und welche neuen Mauern mit den globalen Politiken nach 1989 und 2001 gezogen wurden.

Der Siegeszug des Kapitalismus und der westlichen Demokratien hat sich keineswegs als Garant für Frieden, Sicherheit und Stabilität erwiesen, wie es die Konflikte in Ex-Jugoslawien, der Krieg im Irak oder zuletzt die Einbrüche an den US-amerikanischen Finanzmärkten zeigen. „Postcapital“ ist der Versuch einer Lektüre der komplexen und divergierenden Realitäten des 21. Jahrhunderts entlang ihrer Repräsentationen: der Sichtung eines Zeitalters, dessen Auftakt Andújar zwischen 1989 und 2001 lokalisiert.

Der englische Begriff „Postcapital“ verweist sowohl auf das Kapital als auch auf die Hauptstadt (Kapitale). Das heißt, das Projekt setzt sich gleichermaßen mit den Transformationen der kapitalistischen Gesellschaften wie der Verschiebung ihrer urbanen Machtzentren auseinander.

1989 wurden am Genfer Institut CERN die ersten Grundsteine für das World Wide Web gelegt, dessen Bedeutung für den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft hinlänglich beschrieben worden ist. „Postcapital“ bezieht sich daher weniger auf die Utopien eines überwundenen Kapitalismus, als vielmehr auf jene alle Lebensbereiche betreffenden Umbrüche, die das vernetzte Informationszeitalter ebenso hervorbringt wie einfordert.

Mit den heutigen Informations- und Speichermedien, so die These des Künstlers, entsteht Wissen nicht mehr durch den Besuch von, sondern durch ein Leben in den vernetzten Archiven. Der Interpretation von Informationen kommt dabei eine wesentliche Rolle zu. „Postcapital“ ist in diesem Sinne ein offenes, ebenso metaphorisches wie angewandtes und anwendbares Modell der Durchquerung von Archiven.

Die Ausstellung wird von einem dichten Veranstaltungsprogramm begleitet. Im Anschluss erscheint eine Publikation.

Postcapital. Archive 1989 – 2001: Szenarien

Das „Postcapital“-Projekt, das erstmals 2006 in der Kunstinstitution La Virreina in Barcelona gezeigt wurde, wird an jedem Ausstellungsort auf andere Weise präsentiert. In Stuttgart ist die Präsentation von einem Ensemble aus begehbaren Raummodulen bestimmt, die von Außen eine aus dem Zentrum verrückte Stadtsilhouette abbilden. Die Videomontagen, Bilder und Dokumente, die darin zu sehen sind, basieren alle auf Andújars digitalem Archiv und fokussieren verschiedene inhaltliche Aspekte.
Hinter den Stadtkulissen haben die BesucherInnen Zugriff auf die gesamte Datenbank, in der sie recherchieren, eigene Lektüren visualisieren, die Struktur des Archivs verändern oder Daten kopieren können. Zugleich dient dieser Bereich der Veranstaltung verschiedener Workshops, einer Vortragsreihe und Filmprogrammen.

Chronologie
Eingerahmt wird die raumgreifende Kulisse durch einen umfangreichen Bilderfries, der eine subjektive Chronologie der großen und kleinen Ereignisse zwischen 1989 und 2001 entwirft. Das erste und letzte Bild entstammen der Werbekampagne einer südafrikanischen Tageszeitung, die mit dem Slogan „The world can change in a day“ operiert. Das eine Motiv zeigt die Berliner Mauer am 8. November 1989, das andere den Platz vor dem New Yorker World Trade Center am 10. September 2001.

Privat – Öffentlich
Auf zwei Transparenten werden die Logos global operierender Konzerne und die Namen linker Organisationen einander gegenübergestellt: Als Stellvertreter für die Privatisierung nahezu aller öffentlichen Lebensbereiche einerseits und für die Wiederaneignung öffentlicher Handlungsräume andererseits.

Medienrauschen
Vor der „Stadtsilhouette“ ist eine kreisförmige Videoinstallation platziert, die auf Archivbestände der „alten Medien“ zurückgreift. Sie setzt Propagandafilme des Kalten Krieges, Werbestrategien des „Sex Sells“ und die Kommerzialisierung des Sports in Beziehung zueinander.

Module
Die „Stadtsilhouette“, ein labyrinthisches Ensemble aus Raummodulen, kann über zwei Eingänge betreten werden, die den Besucher jeweils mit einer Videoprojektion empfangen. Die eine zeigt einen Zusammenschnitt von Bildern, in denen Mauern gestürmt werden. Die andere zeigt eine spiralförmige Kamerafahrt entlang des Satellitenbildes einer Großstadt. Erst auf den zweiten Blick gibt sich die urbane Textur als „Ground Zero“ zu erkennen.

Grenzgänge
Die sechs Raummodule, die die beiden Eingänge miteinander verbinden, enthalten Ton-, Bild und Videokollagen, die verschiedene Kontexte fokussieren. Der an die „Mauerstürmungen“ anschließende Raum verschränkt Bilder der seit 1989 eingerissenen und neu gezogenen Grenzen miteinander. Darüber hinaus geht es um eine Reihe weiterer Ereignisse, die 1989 entscheidende Veränderungen angekündigt haben: Das Massaker am Tianamnen Platz in Peking, das die sozialen Spannungen des Liberalisierungsprozesses in China markiert; der Einmarsch der US-Truppen in Panama sowie das Auslaufen des Öltankers „Exxon Valdez“, das ein globales Bewusstsein für Fragen des Umweltschutzes in Gang setzte.

9/11 Mysterien
Das an „Ground Zero“ angrenzende Raummodul zeigt verschiedene Gegendarstellungen zu den offiziellen Berichterstattungen über die Attacken des 11. Septembers 2001. So zum Beispiel die Videodokumentation „9/11 Mysteries“, die belegt, dass die Türme des World Trade Centers durch gezielte Sprengungen zum Einsturz gebracht wurden. Andújar geht es nicht darum, die eine oder andere Theorie zu be- oder entkräften, sondern um die Frage, wovon deren kollektive Glaubwürdigkeit abhängt. Zugleich verweist Andújar hier auf Pinochets Militärputsch am 11. September 1973 in Chile.

Red Box / Black Box
Im Zentrum des architektonischen Ensembles liegen ein rotes und ein schwarzes Raummodul. Die rote Box umfasst Quellen wie das „Marxists Internet Archive“ sowie diverse Stasidokumente. In der schwarzen Box zeigt Andújar seine Videoarbeit „Honor“, die Kriegs- und Terrorbilder von Computerspielen, Nachrichtensendern, Laiendokumentationen und Werbekampagnen miteinander verwebt. Demgegenüber untersucht er die Repräsentationsformen des Widerstands.

Kartografien und Diagramme
Als „Hub“ zwischen den verschiedenen Raumsegmenten versammelt eine offene Koje Kartografien und Diagramme, die verschiedene Interpretationen der global verschränkten, sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen zeigen. Eine Animation, die Satellitenaufnahmen der aktuellen Megacities und Agglomerationen miteinander verknüpft, lenkt den Blick auf eine veränderte Wahrnehmung der Welt.

Archiv
Das „Herz“ des Archivs, der Server, verbirgt sich in einer tribünenartigen Architektur hinter der „Stadtsilhouette“. Über verschiedene damit vernetzte Computer haben die BesucherInnen einen direkten Zugriff auf den gesamten Datenbestand von Andújars Archiv. Sie können ihn zur eigenen Recherche nutzen, Materialien kopieren, in die Systematik des Archivs eingreifen oder über Monitore ihre eigene Auswahl daraus präsentieren. Zugleich findet im Archivbereich eine Reihe von Veranstaltungen statt.

Bibliothek
Als aus dem Archiv ausgekoppeltes Element, bietet die digitale Bibliothek  den Zugriff auf Schriften, Texte, Videos und Audiodokumente von bzw. über mehr als 200 AutorInnen, die das aktuelle Denken nachhaltig prägen. Eine Auswahl aus dem Bestand wird in ausgedruckter Form zur Verfügung gestellt.
Statement
von Daniel García Andújar, Ivan de La Nuez, Carlos Garaicoa
(Im Rahmen der Ausstellung „Postcapital. Politics, City, Money”, La Virreina, Barcelona, 2006)

Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Kommunismus traten die osteuropäischen Länder in eine Ära ein, die man als „Postkommunismus“ bezeichnet hat. In weniger als zehn Jahren wurde dieser vielschichtige Prozess, der sich an manchen Orten friedvoll, an anderen gewalttätig vollzog, zum Fokus zahlreicher Studien, Programme, Diagnosen, Theorien, Warnungen, Kritiken und Euphorien. Eingeschaltet in die Diskussion haben sich so unterschiedliche Theoretiker wie Ralph Dahrendorf und Slavoj Žižek, Timothy Garton Ash und Grzegorz Ekiert, Vesna Pusić und Tibor Papp, John le Carré und Frederick Jameson, Antonio Negri und Michael Hardt …

Unter dem Deckmantel von Notfallmaßnahmen – einer postmodernen, jedoch kleinlicheren Variante des Marshall-Plans – legte der Westen eine Reihe von ökonomischen und politischen Regularien fest, mit denen die freie Marktwirtschaft in den ehemals kommunistischen Gebieten etabliert werden sollte. Ob in Form von Schocktherapien, wie in Russland, oder mit Hilfe moderater Programme, ging es darum, diese Länder nach den Maßgaben der liberalen Demokratie und durch die Neugestaltung ihrer internationalen Beziehungen (durch IWF, Europäische Union, NATO etc.) in den Kapitalismus zu führen.

Knapp zwei Jahrzehnte später wird deutlich, dass – trotz aller Theorien vom Ende der Geschichte, die eine entspannte und zugleich langweilige Ewigkeit des Kapitalismus prophezeiten – der Westen eine Veränderung durchläuft, dessen Ausmaße man gerade erst zu begreifen beginnt. Sowohl seitens der Linken als auch der Rechten – von Robert Kaplan bis zum vorletzten Recycling Francis Fukuyamas, von Ulrich Beck bis Oskar Lafontaine –  wurde erkannt, dass der Glaube an das sichere Fundament, auf dem die Weltordnung aufruhe, zutiefst erschüttert ist. Der Westen wird gewahr, dass sich der Liberalismus mit dem Wegfall seines ehemaligen Tanzpartners (des Sozialismus) zunehmend orthodox und immer weniger demokratisch verhält.

Die alte Patt-Situation zwischen Ost und West hat den Weg geebnet für die Konfrontation zwischen der westlichen und arabischen Welt, zwischen Christentum und Islam, Demokratie und Terrorismus. All dies hat zu einer neuen geopolitischen Landkarte geführt, deren Gültigkeit sich mit den Attacken des 11. Septembers 2001 in den USA in Zusammenhang bringen ließe.

Verkürzt gesagt: Die Berliner Mauer stürzte auch in den Westen. Und einst geheiligte Begriffe wie „Solidarität“ oder „Transparenz“, die im Zuge der Demontage von Regierungen und Grenzen früherer kommunistischer Imperien noch eine zentrale Rolle spielten, wurden zwischen den Trümmern der alten und den Fundamenten der neuen Mauern globaler Politiken begraben. Diese Situation nennen wir „Postkapitalismus“.

Daniel García Andújar
Künstler, *1966 in Almoradí, lebt in Barcelona
www.danielandujar.org

Daniel García Andújar lotet in seinen Arbeiten – Installationen, Videos, Workshops oder Netzprojekte – die neuen Kommunikationstechnologien im Hinblick auf ihre demokratischen und emanzipatorischen Versprechungen aus. Auf kritische Weise setzt er sich dabei mit den Kontrollmechanismen, die sich hinter ihren transparenten Strukturen verbergen, auseinander. „Hack the System“ ist dabei eine Strategie, die er nicht nur im Hinblick auf digitale Kommunikationssysteme, sondern auch auf Institutionen, politische, kulturelle oder ökonomische Machtverhältnisse anwendet. Dabei geht es sowohl um die kritische Analyse oder ironische Freilegung dieser Verhältnisse als auch um die Erprobung kollaborativer und unabhängiger Formen der Kunst- und Wissensproduktion. Mit seinen diversen e-Projekten (e-valencia, e-barcelona, e-sevilla, etc.) hat er lokal verankerte kulturpolitische Internetforen zur Etablierung von Gegenöffentlichkeiten geschaffen. Plattform seiner Arbeit ist das von ihm 1996 gegründete fiktive Unternehmen „Technologies To The People“.

Postcapital. Archive 1989 – 2001
22. November 2008 – 18. Januar 2009

Ein Kunstprojekt von
Daniel García Andújar / Technologies To The People

Presserundgang
Freitag, 21. November 2008, 14 Uhr

Eröffnung
Freitag, 21. November 2008, 19 Uhr

Rundgang mit dem Künstler
Samstag, 22. November 2008, 13 Uhr

Kostenlose Führungen
Jeden Sonntag, 15 Uhr

Eine Ausstellung des
Württembergischen Kunstvereins Stuttgart

KuratorInnen
Hans  D. Christ, Iris Dressler

Partner
La Virreina, Barcelona
Centro de Arte Tomàs y Valiente, Fuenlabrada
Akademie Schloss Solitude, Stuttgart

Adresse
Württembergischer Kunstverein Stuttgart
Schlossplatz 2, 70173 Stuttgart
Fon: +49 (0)711 – 22 33 70
Fax: +49 (0)711 – 29 36 17
www.wkv-stuttgart.de

Pressetexte (ausführlich) und Pressebilder
www.wkv-stuttgart.de/presse

Pressekontakt
Iris Dressler
Fon: +49 (0)711 – 22 33 711
dressler@wkv-stuttgart.de

Gefördert durch
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg
Kulturamt der Stadt Stuttgart
SEACEX, Sociedad Estatal para la Acción Cultural Exterior, Madrid
Golart-Stiftung, München
ProLab, Stuttgart

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